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der BUND | Walter Däpp | 26.03.2009
Auch Charles war ein Verdingbub
Bei Charles Probst, 79-jährig, weckt der Besuch der Ausstellung «Verdingkinder reden» im Käfigturm Bern besondere Emotionen: Er war selber ein Pflege- und Verdingkind. Diese für ihn schlimme Zeit hat er lange verdrängt, doch nun redet er darüber.
Eigentlich habe er viele Jahre «einigermassen gelassen» auf seine verlorene Kindheit und Jugendzeit zurückgeblickt, sagt er: Schliesslich habe er sein Leben dann gelebt, sich «durchgekämpft und durchgeboxt». Doch seit er sich in die Akten aus jener Zeit vertieft habe, sei er «wütend» – wütend vor allem über die damalige Behandlung seiner leiblichen Eltern durch die Behörden. Und über die Art, wie man mit ihm «umgegangen» sei.Charles («Charly») Probst, heute 79-jährig, war ein aussereheliches Kind. Er war krank und schwach zur Welt gekommen, mit elf Monaten wurde er «der Mutter weggenommen und nach Lyssach in eine Pflegefamilie gegeben». Dort sei er «relativ gut aufgehoben» gewesen. Doch später, als er sich «allmählich habe nützlich machen können», sei er «in die Arbeitswelt geschleust» worden. Erst als Achtjähriger habe er vernommen, dass er gar nicht zur Familie gehörte, sondern ein Pflegekind war. «Von diesem Moment an», sagt er, «war ich, rückblickend betrachtet, ein Verdingkind – nur da, um zu arbeiten und einen Knecht zu ersetzen.» Wenn «Charly» nun aus jener Zeit zu erzählen beginnt, schweift er immer wieder ab. Dann berichtet er zum Beispiel von rüden Erziehungsmassnahmen seines Pflegevaters, nachdem er einmal nicht pünktlich zur Arbeit erschienen war. Oder von schweren Folgen einer Pockenimpfung. Oder von seinem ersten «Suff» und vom Versuch, sich umzubringen. Oder er erinnert an seine Mutter, die auch ein Verdingkind gewesen war – als Magd in Heimiswil, wo sie vom älteren Sohn der Meisterfamilie geschwängert und daraufhin vom Hof gejagt worden sei. Sein leiblicher Vater habe sich der Verantwortung entzogen, der Stiefvater habe dann die Vaterrolle übernommen.Als Zehnjähriger war Charles Probst in eine Bauernfamilie nach Gurzelen verdingt worden, von dort aber nach zwei Monaten weggelaufen. So kam er für mehrere Jahre in ein Heim für schwererziehbare Knaben, wo er, wie er sagt, «immer wieder schikaniert und geschlagen» wurde. Und nach seinem Schulaustritt 1946 wurde er Knecht in Gurzelen. Später konnte er eine Gärtnerlehre antreten, doch erst als Zwanzigjähriger war er «wirklich frei»: Er fuhr mit dem Velo statt in die Rekrutenschule (die er später nachholte) nach Frankreich – nach Paris, wo er sich auf seine Weise weitergebildet habe. Später baute er eine eigene Transportfirma auf, die er dann während 35 Jahren führte.Rückblickend schmerzt ihn an seiner Verdingbub-Vergangenheit vor allem der Umstand, dass er ausgegrenzt war, «von Dorfbewohnern beschimpft und geplagt wurde». Und als schlimm bezeichnet er vor allem die Trennung von seiner Familie – von seiner Mutter. Amtlichen Dokumenten habe er nun entnommen, dass ihre Gesuche, ihn besuchen zu dürfen, stets abgelehnt worden waren. Auch die Teilnahme an der Beerdigung seiner Grossmutter sei ihm erst auf ein Gesuch hin bewilligt worden.«Meine Mutter war Akkordarbeiterin in einer Fabrik», sagt er, «aber ihr Lohn reichte nicht aus, um uns durchzubringen.» Statt sie zu unterstützen, habe man die Familie auseinandergerissen. Dies erfülle ihn noch heute mit Bitterkeit. Und das habe dazu geführt, dass er seine Verdingbuben-Zeit lange verdrängt, nur unter einem Pseudonym davon erzählt habe. Doch nun rede er. So, wie viele andere Verdingkinder in der Ausstellung auch redeten. Wenn er sich in der Ausstellung umsehe, «diese vielen Lebensgeschichten» an sich vorbeiziehen lasse, wühle ihn das auf, sagt er: «Vieles habe ich auch erlebt. Als Kinder und Jugendliche mussten wir hart arbeiten. Deshalb waren wir für die Bauern auch erst interessant, als wir genügend Kraft hatten, um zupacken zu können.»Auf eindrückliche Art wird in der Ausstellung gezeigt, wie viele Verdingkinder Opfer von Willkür, falschen Massnahmen und Gewalt waren. Man lässt sie erzählen – und führt die Besucherinnen und Besucher in Themenfelder, denen die Kinder damals ausgeliefert waren: an ihre Pflegeorte, in die Schule, zu Behördestellen. Und man erfährt, was für Überlebensstrategien sie entwickelten. Die Ausstellung beansprucht nicht, die Geschichte der ausserfamiliären Erziehung ausgewogen darzustellen. Ihre Absicht ist bloss, «den Erinnerungen von Betroffenen Gehör zu schenken». Es lohnt sich, das Angebot anzunehmen – und hinzuhören.